Martin Amanshauser

Oma in Lissabon

Meine Oma war eine großartige Reisende. Jedenfalls empfand ich sie als solche. In der Realität reiste sie nur selten, seit ich sie kennengelernt hatte – im November 1968, als ich die ersten Tage nach meiner Geburt in ihrer Wohnung in der Nonntaler Hauptstraße 37A in Salzburg verbrachte. Meine Oma und meine Mutter kümmerten sich gemeinsam um das Baby, das ich war. Das ging nicht lange gut, sie begannen zu streiten. Jüngst mutmaßte ich gegenüber meiner Mutter, ob ihre Mutter, die selbst vier Kinder auf die Welt gebracht hatte, denn damals alles besser gewusst habe. „Nein, gar nichts hat sie gewusst!“, sagte meine Mutter aus tiefstem Herzen. Nach einer Woche zogen meine Mutter und ich ein paar hundert Meter weiter, auf den Festungsberg, zu meinem Vater, der sich am Beginn meines Lebens aus der Sache, die ich war, herausgehalten hatte.

Ein Jahr später, als meine Mutter wieder arbeiten ging, bestand Meine erste, auf den Schultern meines Vaters jeden Vormittag repetierte Reise, im umgekehrten Weg vom Festungsberg hinunter, zurück in die Nonntaler Hauptstraße 37A, in den dritten Stock – lange Zeit, bevor ich begriff, welchen Stellenwert das Reisen in der Phantasie meiner Oma einnahm.

Sie war am 19. Januar 1908 in einem gutbürgerlichem Elternhaus in Salzburg geboren worden. Ihr Vater war ein hoher Eisenbahnbeamter in der K&K-Monarchie gewesen. Sie besuchte das Lyzeum. Die Sommerferien verbrachte sie bei den Großeltern in der steirischen Kleinstadt Judenburg, die ein Pferdegestüt und ein Kaufhaus besaßen. Sie spielte Handball wie ein Junge, fuhr Schi und erstieg die Berge. In den späten Zwanziger Jahren gehörte sie zu den ersten Frauen, die in einem Zweisitzer-Flugzeug mitflogen, mit Helm und Brille an der frischen Luft. „Nein, ich hab damals gar keine Angst gehabt“, erinnerte sie sich, „es war ein Abenteuer, und ich wusste ja, der Pilot wollte mir imponieren.“

Wegen dieser Erzählung sah ich Oma immer als Fliegerin, obwohl ich – bis zum Juli 1999 – kein einziges Mal mit ihr geflogen war. Seit ich mich erinnern kann, ging sie am Stock, später musste sie eine Krücke nehmen. Die künstlichen Hüftgelenke der Siebziger Jahre hielten nicht lange, und irgendwann, ab 1980, hätte sie zwei Krücken verwenden sollen, eine Neuerung, gegen die sie sich zwei Jahrzehnte lang wehrte. Krücken waren für sie das Schlimmste – das äußerlich sichtbare Zeichen ihrer Immobilität. Wo sie nur konnte, verzichtete sie auf diese Symbole der Gebrechlichkeit.

In diesem Frühling 1999 entstand in mir die Idee, mit Oma nach Lissabon zu reisen. In der Familie wurde das Vorhaben mit Kopfschütteln registriert: Warum sollte man eine 91-jährige Frau mit zwei Krücken, die gelegentlich ein bisschen verwirrt war, für fünf Tage an den Rand des Kontinents verpflanzen? Oma zweifelte selbst, doch schließlich siegte ihre Neugier. Sie wollte das rätselhafte Land sehen, dessen Sprache ihr Enkel beherrschte und in dem er sich immer wieder aufhielt. Und vor allem wollte sie wieder reisen. „Gibt es dort Tomaten?“, fragte sie, und die positive Antwort schien sie zu befriedigen. Für unser Projekt benötigten wir noch eine dritte Person: meine Freundin Linda entschloss sich, mitzufahren, mehr aus Neugier – wie mir schien – als aus innerem Bedürfnis.

Am 2. Juli 1999, fünf Wochen vor der großen Sonnenfinsternis, bestiegen wir in München eine Lufthansa-Boeing, nachdem wir mit einem Rollwagen zum Gate transportiert worden waren. Für Oma war es der erste Flug, seit sie ums Jahr 1950 einige Male mit Kleinmaschinen nach Persien geflogen war, um ihren ausgewanderten Mann – der nie mehr wiederkommen und auch nicht zu ihr zurückkehren sollte – ergebnislos von der Sinnhaftigkeit ihrer Ehe zu überzeugen. Seitdem war beinahe ein halbes Jahrhundert vergangen, aber davon ließ sie sich nichts anmerken. „Was hab ich zu verlieren?“, sagte sie mit glänzenden Augen. An Bord bekam sie einen Hustenanfall, weil sie sich mit dem Reis verschluckte, aber nach außen hin zeigte sie keine Angst. Kurz behauptete sie, nach Buenos Aires zu reisen, „nein, Oma, Lissabon!“ Sie nickte zufrieden.

In Lissabon nahmen wir ein Taxi, checkten ins Hotel Rex ein, am Rand des Parque Eduardo. Oma bezog ihr eigenes Zimmer und ärgerte sich, dass sie „die falschen Schuhe“ dabei hatte, „die ganz, ganz alten!“ Dann stiegen wir ins Taxi und begannen das Besichtigungsprogramm.

Die letzten Meter zum Castelo São Jorge musste man zu Fuß gehen. Oma strengte sich mit ihren zwei Krücken an, Schweiß stand auf ihrer Stirn. Man merkte, wie es ihr als alter Bergsteigerin Spaß machte, bergauf in möglichst hoher Geschwindigkeit voranzukommen. „Oma, langsamer!“ Ich fühlte mich hilflos. Wir passierten einen Rettungswagen, vor dem ich sie fotografierte.

Um ein Haar hätten wir schon eine halbe Stunde später seine Dienste benötigt. Oma wollte sich rücklings auf einen Steinblock setzen, der sich viel tiefer befand, als sie kalkuliert hatte. Sie kippte zur Seite, stürzte und riss sich die Haut am Unterschenkel auf. Durch ihren Strumpf sickerte dickes, dunkelrotes Blut. Das hinderte sie nicht daran, gleich anschließend ein Super Bock zu trinken und eine der langen, schmalen Eve-Zigaretten anzuzünden, die sie immer dabei hatte. Irgendwie wirkte sie ein bisschen verstört: „Seit wie lange lebst du jetzt eigentlich in Venezuela?“, fragte sie mich nachdenklich. „Oma, Lissabon“, sagte ich. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung: „Klar, Lissabon – blöd von mir!“

Mit meinem Freund Rui Zink und seinem 5-jährigen Sohn Lionel fuhren wir an den westlichsten Punkt Europas, das Cabo da Roca. Oma stieg aus, wurde beinahe vom Wind verweht, bewunderte den von Mittagsblumen überwucherten Abgrund und nahm den besonderen geographischen Ort mit Kopfnicken zur Kenntnis. „So dumm, dass ich meine guten Schuhe daheim vergessen habe!“ Tatsächlich faszinierte sie erst die Fahrt durch die feuchten, dunkelbraun glänzenden Wälder rund um Sintra. Alles dampfte vom Regen. „Was für ein Zauberwald“, sagte Oma immer wieder, „und wie heißt der Kleine jetzt? Ich bin schon ganz verblödet.“ Wir antworteten mehrmals „Lionel“, mit den beiden belegten L, die das Portugiesische hat, und Oma war völlig befriedigt. „Diesen Zauberwald werde ich nie vergessen“, sagte sie.

Die Stimmung drohte zu kippen, als Oma immer vehementer beklagte, dass sie die alten, schlechten Schuhe dabei habe – während sie, hätte sie sich die Anforderungen der Reise ausmalen können, selbstverständlich die neuen, guten mitgenommen hätte. Ihre Klage stand ganz im Gegensatz zur Wirklichkeit, denn sie kam mit ihren Schuhen respektabel voran. Wir besuchten die Aussichtspunkte auf der Graça und der Alfama, betraten die Estufa Fria, und fuhren mit dem orangefarbenen Schiff auf die andere Seite des Tejo. Mir kam der Gedanke, dass das eventuell ihre letzte Schifffahrt war; drüben aßen wir Tintenfisch.

Oma fühlte sich überall wohl, war bester Laune – außer, wenn ihr Blick auf diese alten Schuhe fiel, die sie trug. Es handelte sich, wie wir bald begriffen, in erster Linie um ein modisches Problem. „Eine alte Frau mit Krücken“, kommentierte sie ihr Aussehen, „und mit grässlichen Schuhen …“ Linda und ich übten uns darin, ihr nicht zu widersprechen, dadurch verlief sich das Schuhthema. Manchmal drohte es allerdings, sich wie eine ansteckende Krankheit auszuweiten. „Das ist meine älteste Hose“, sagte sie und deutete mit ernster Miene auf ihre Hose. „Die ist doch okay, Oma!“, rief ich. Sie war nicht überzeugt: „Findest du?“, sagte sie düster. „Du hättest keine bessere und praktischere mitnehmen können“, schlug ich vor. „Hast du eine Ahnung …“, seufzte sie.

Wir aßen Steak im Grill 20 in der Rua da Palma und nahmen die frischen Gambas in der Portugália tellerweise zu uns, doch das tollste Essen fand im Restaurante das Portas do Sol statt, mit Rui Zink, seinem Sohn und anderen Freunden. Oma passte hervorragend in die Gesellschaft junger Leute, rauchte ihre Eve-Zigaretten, aß für zwei Personen, trank Rotwein, und beteiligte sich, zu meinem Erstaunen, vier oder fünf Mal an den Schnapsrunden. Wir wurden fröhlich. Gegen Mitternacht machten Rui und Oma einander die tollsten Komplimente.

Als ich im am nächsten Morgen im Hotel Rex in ihr Zimmer kam, stand sie angezogen und parfümiert vor mir. „Ich habe keine Sekunde geschlafen“, sagte sie, „die erste Hälfte der Nacht habe ich mich pausenlos übergeben, und die zweite Hälfte hab ich damit verbracht, alles sauber zu machen.“ Am Frühstücksbuffet aß sie, wie üblich, mehr als Linda und ich zusammen. Sie grollte ein bisschen, wegen ihrer alten Schuhe und ihrer alten Hose, die man genau genommen in Gesellschaft nicht mehr anziehen könne, deutete aber auch, mit einiger Befriedigung, auf die Kaffeemaschine neben ihr, die gurgelnde Geräusche machte: „Die ist wirklich alt!“

Auf dem Heimflug sah Oma zu ihrer Verblüffung die französischen Alpen von oben. Noch tiefer beeindruckte sie die Rückfahrt mit dem Flughafenbus von München nach Salzburg. Die untergehende Sonne beleuchtete die südbayrische Landschaft und unsere Gesichter dunkelgelb, so als wollte sie noch einmal zeigen, wie schön die Welt sein konnte.

Im Frühling 2003, wenige Wochen, nachdem sie ihre Wohnung in der Nonntaler Hauptstraße 37A endgültig verlassen hatte, schob ich Oma im Rollstuhl in die Kantine des Altersheims. Wir tranken gemeinsam ein Stifterl Rotwein, und sie sagte den Satz, den sie beim Weintrinken inzwischen jedes Mal sagte: „Also der Wein heißt gar nichts!“ Es war ein Frühlingstag. Sie wünschte sich, ich solle sie in den Garten des Altersheims schieben. Die Wiese blühte, und Oma zählte mir die Namen sämtlicher Blumen auf, an denen wir vorbeikamen.

Ich erwähnte unsere gemeinsame Fahrt nach Lissabon. Sie hörte mir interessiert und etwas ungläubig zu, aber sie erinnerte sich nicht mehr daran. „Mein Gott, wie kann das sein, dass ich das vergessen habe“, sagte sie. Ich versprach ihr, als Beweis einige Fotos mitzubringen. Sie nickte beiläufig und wechselte das Thema: „Schieb mich weiter!“ Wir sahen einander nicht in die Augen, ich schob sie an den Haltegriffen, sie blickte mit erhobenem Kopf nach vorne in ihre Zukunft. „Mein letzter Frühling“, sagte sie mit Bestimmtheit. Ich schob, ich schob weiter, ich brachte kein Wort hervor, mir fehlte die Kraft, zu widersprechen.